„Ein Ort, an dem die übliche Ordnung nicht existiert“ - Kai Weiler - Impuls, janvier 2015
„Ein
Ort, an dem die übliche Ordnung nicht existiert“
„Quai West“ erlebt Uraufführung der deutschen
fassung am Staatstheater Nürnberg
„Quai West“ erlebt Uraufführung der deutschen
fassung am Staatstheater Nürnberg
Begeisterten
Applaus erhielt der Komponist Régis Campo nach der Nürnberger
Erstaufführung seines Orchesterstücks „Lumen“ beim 2.
Philharmonischen Konzert. Campos vital rhythmische Musik, die sich
unmittelbar an die sinnliche Wahrnehmung der Hörer wendet,
entwickelt bereits beim ersten Hören eine große suggestive Kraft.
Nun kommt seine Oper „Quai West“ nach dem gleichnamigen Drama von
Bernard-Marie Koltès auf die Bühne des Opernhauses. Das Werk
entstand als gemeinsame Auftragsarbeit des Staatstheater Nürnberg
und der Opéra National du Rhin Strasbourg.
Am
Rande der Gesellschaft
Der
gescheiterte Geschäftsmann Maurice Koch geht nachts zu einem
einsamen Hangar, um zu sterben. Seine Sekretärin Monique begleitet
ihn, denn sie will ihn von seinem Vorhaben abbringen. In dem
nächtlichen Gelände begegnen sie einer Familie von
lateinamerikanischen Einwanderern, der alten Cécile und ihrem Mann
Rudolfe mit ihren beiden Kindern Claire und Charles, sowie Claires
Freund Fak. Es ist eine merkwürdige Gruppe von Randfiguren der
Gesellschaft, die sich in dem Zwischenraum von Leben und Tod
versammelt. Schon bald ist klar, dass Tausch und Handel, Gier und
Überdruss das Handeln der Figuren bestimmen. „Wer folgt wem? Wer
führt wen?“ hat Koltès als Leitmotiv über sein Stück
geschrieben. Die geheimnisvollste Figur dieses menschlichen
Panoptikums ist der Namenlose, den Charles zu Beginn „Abad“
nennt. Ein Bote des Todes?
Bernard-Marie
Koltès hat in einem Interview die Grundsituation seines Dramas „Quai
West“ sehr plastisch beschrieben. „Im New Yorker Westen, in
Manhattan, in einer Ecke des West Ends, da, wo der alte Hafen ist,
liegen Docks; insbesondere ein stillgelegtes Dock, ein großer leerer
Hangar, in dem ich ein paar Nächte abgetaucht bin. Ein absolut
merkwürdiger Ort – ein Unterschlupf für Penner und Schwule, für
Geschäfte und Abrechnungen, ein Ort, an den sich aus obskuren
Gründen dennoch kein Polizist verirrt. Wenn man dort eindringt,
stellt man fest, dass man sich in einer besonderen Ecke dieser Welt
befindet, als wäre inmitten eines Gartens ein Viereck
geheimnisvollerweise sich selbst überlassen worden, wo die Pflanzen
sich anders entwickelt hätten; ein Ort, an dem die übliche Ordnung
nicht existiert, wo statt dessen eine andere, sehr seltsame Ordnung
entstanden ist. Der Hangar wird bald zerstört; der Bürgermeister
von New York hat für seine Wiederwahl versprochen, das ganze Viertel
zu säubern, wahrscheinlich weil da ab und an eine Leiche ins Wasser
geworfen wird. Ich wollte von dieser kleinen Ecke der Welt erzählen,
außergewöhnlich und uns dennoch nicht fremd; ich möchte gern von
dem fremdartigen Gefühl berichten, mit dem man diesen gewaltigen,
scheinbar verlassenen Raum durchquert, die ganze Nacht lang mit
wechselndem Lichteinfall durch die Löcher im Dach, Geräuschen von
Schritten und hallenden Stimmen, Rascheln, jemandem neben dir, einer
Hand, die urplötzlich nach dir greift.“
Die
Musik
Komponist
Régis Campo bekennt freimütig, dass ihn die Vertonung von Koltès‘
Drama vor nicht geringe Probleme gestellt hat: Die Figuren in den
Werken des 1989 verstorbenen französischen Schriftstellers
entwickeln sich in langen Textpassagen, in denen Sprache zur Handlung
wird. Aber diese langen Figurenreden sind für einen Komponisten
nicht vertonbar, denn gesungener Text ist drei- bis viermal so lang
wie gesprochener. Das Libretto von Kristian Frédric und Florence
Doublet hat daher das Drama aufs Äußerste verknappt und verkürzt –
und genau diese Verkürzung gibt Régis Campo den Raum für Musik.
Die Musik nämlich schafft nun den Raum, den Ort, die Atmosphäre, in
dem sich das Drama entfaltet, und sie ersetzt damit den Sprachraum,
den Koltès seinen Figuren mitgibt. Den New Yorker Hangar, den Koltès
so eindrucksvoll beschreibt, schafft Campo mit musikalischen Mitteln,
wofür er die gleißenden Klangkaskaden der Minimal Music ebenso
verwendet wie Elemente von Blues, Rockmusik oder Flamenco. Campo
bekennt sich bewusst zum Eklektizimus, der zugleich die Situation des
Stückes reflektiert: Lange bevor im Theater über die Darstellung
von Migranten diskutiert wurde, hat Koltès die von Migration
geprägte Gesellschaft Europas auf die Bühne gebracht. So prallen in
„Quai West“ die zwei Repräsentanten der bürgerlichen
Mittelschicht Maurice und Monique auf eine Einwandererfamilie und auf
Abad als Vertreter der nordafrikanischen Minderheit in Frankreich.
Knapp 30 Jahre nach der Uraufführung des Stückes, das heute
aktueller denn je ist, transportiert Campo diese Mischung von Milieus
und Kulturen mit seiner Partitur. Für den Komponisten ist Humor ein
wichtiges Element seiner Musik. Er will daher die ausweglose
Situation des Dramas gar nicht mit der Musik verdoppeln, sondern
einen ganz eigenen Raum schaffen, in dem sich das Drama entfalten
kann – und sieht sich dabei durch Äußerungen Koltès‘ völlig
bestätigt. Der nämlich hatte immer wieder geklagt, dass die Ironie
und der Humor seiner Stücke zu selten wahrgenommen würden.
Das
Team
Regisseur
Kristian Frédric, der die Inszenierung in Straßburg wie auch in
Nürnberg gestaltet, ist dem hiesigen Publikum bereits als einer der
Regisseure der spektakulären Produktion „orpheus@felsen.gaenge“
bei den Internationalen Gluck Opern Festspielen 2010 bekannt. Der
renommierte französische Regisseur arbeitet auch als Schauspieler,
Autor, Rundfunkmoderator, Journalist, Theatertechniker und seit
einigen Jahren auch als Bühnenbildner. Bei „Quai West“ zeichnet
er zudem gemeinsam mit Florence Doublet für das Libretto
verantwortlich. Zusammen mit seinem Bühnenbildner Bruno de Lavenère
und der Kostümbildnerin Gabriele Heimann hat er eine Inszenierung
geschaffen, in der die Unsicherheit des Ortes durch verschiebbare
Wände als Atmosphäre eines postindustriellen Raumes erlebbar wird.
Mit
der Rolle des Maurice Koch wird sich der Bassist Pavel Shmulevich dem
Nürnberger Publikum vorstellen. Die Rolle des Fak, die Campo für
einen Countertenor komponiert hat, übernimmt wie bereits in der
Straßburger Uraufführung Fabrice di Falco. Die Frauenrollen sind
mit den Ensemblemitgliedern Leah Gordon als Monique, Michaela Maria
Mayer als Claire und mit Leila Pfister als Cécile ebenso glanzvoll
besetzt wie die Rollen des Charles mit Hans Kittelmann und des
Rodolfe mit Taehyun Jun.
Eine
Oper im Werkstatt-Prozess
Nachdem
„Quai West“ im September 2014 in Straßburg uraufgeführt wurde –
hier bereits in der Inszenierung von Kristian Frédric und unter der
Musikalischen Leitung des Nürnberger Generalmusikdirektors Marcus
Bosch – hat Régis Campo das Werk für die Nürnberger Aufführung
noch einmal revidiert. Das betrifft zunächst erneut die Sprache,
denn „Quai West“ wird in Nürnberg nicht in der französischen
Originalsprache gespielt, sondern in einer vom Komponisten
autorisierten Übersetzung. Die Regisseurin und Librettistin Carolyn
Sittig, die dem Staatstheater Nürnberg seit vielen Jahren verbunden
ist, hat auf der Basis der deutschen Übersetzung von Simon Werle die
deutsche Textfassung erarbeitet, und Régis Campo hat an vielen
Stellen die Gesangslinie an den deutschen Text angepasst. Er hat
darüber hinaus einige Passagen der Partitur erweitert, den
Gesangspart farbiger gestaltet und, im Austausch mit den Sängerinnen
und Sängern des Nürnberger Ensembles, einige Partien noch schärfer
charakterisiert. Für den Komponisten eine beglückende Erfahrung,
denn durch die Aufführung einer eigenen Nürnberger Fassung in
deutscher Sprache ist ein echtes „work in progress“ möglich
geworden, wodurch sich für Nürnberg erneut eine Uraufführung
ergibt. Régis Campo, der so auch schnell die Vorzüge des
Ensemble-Systems eines deutschen Theaters kennen und schätzen
gelernt hat, ist begeistert von den musikalischen Möglichkeiten der
deutschen Sprache. Als beglückend empfindet er auch den intensiven
Kontakt zu einem Opernhaus und den kontinuierlichen Austausch mit
dessen Ensemble. Nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit Marcus
Bosch, der u. a. bei der Münchener Biennale für neues
Musiktheater und an der Hamburgischen Staatsoper als kompetenter
Anwalt Neuer Musik hervorgetreten ist, hat Campo immer wieder
Erfahrungen der Probenarbeit in das bereits fertige Werk einfließen
lassen können.
Kai Weßler
Kai Weßler
Impuls, Janvier 2015
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